Rache stärkt das eigene Ego
Das Bedürfnis nach Rache ist ein elementares Bedürfnis. Es ist ein seit dem Altertum gesellschaftlich anerkanntes Bedürfnis, da es das grundsätzliche Ziel verfolgt, einen Ausgleich für selbst erlittene Schädigungen durch einen anderen zu erhalten. Das eingetretene Bedürfnisdefizit soll ausgeglichen werden. Wenn ein Bedürfnisdefizit durch gleich große Bedürfnisbefriedigung ausgeglichen wird, ist das Ganze ein Null-Summen-Spiel. Null-Summen-Spiele lohnen aber nicht. Wir suchen Bedürfnisbefriedigung. Daher neigen Geschädigte tendenziell dazu, mehr zu fordern als beschädigt wurde.
Von Hass bestimmte Motivation kann also aus dem Naturprogramm des Menschen heraus, zumal in Verbindung mit dem Bedürfnis nach Macht, leicht schrankenlos ausufern.
Bereits der Kodex des babylonischen Königs Hammurapi (1792–1750 v. Chr) hatte daher zum Ziel, das Bedürfnis nach Rache in ein mäßigendes Verhältnis zum entstandenen Schaden zu setzen, um die Hass bestimmte Motivation zu kanalisieren und zu beschränken. Rache sollte nur in dem Ausmaß genommen werden, wie einem selbst ein Schaden an Leib oder Leben entstanden war, und nicht mehr!
Auch im Alten Testament finden wir das Bemühen, dem Bedürfnis nach Rache Grenzen zu setzen: „Wenn aber Schaden geschieht, so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme." (Exodus 21, 23–25; Elberfelder 1905)- und nicht mehr!
Das von Lerner postulierte Bedürfnis nach Gerechtigkeit (Lerner 1980) sehen wir daher im Prinzip nicht. Wir haben Bedürfnisse danach, dass wir als Person und auch unser Eigentum von anderen respektiert und geachtet werden. Wird dieses Bedürfnis verletzt, verlangt unser Naturprogramm einen Ausgleich für den entstandenen Schaden, da nur so das Bedürfnisdefizit ausgeglichen werden kann. Doch sehen wir den Schaden in aller Regel größer, als er wirklich ist. Der verlangte Schadensausgleich ist daher auch in aller Regel zu hoch.
Dass das Bedürfnis nach Rache furchtbare Auswirkungen haben kann, sehen wir auch daran, dass sich die Blutrache, als persönliche Rache, in manchen archaischen Gesellschaften bis zum heutigen Tag nicht nur als Ausgleich für den Verlust eines Lebens, sondern auch schon als Ausgleich für Verletzungen der Ehre gehalten hat. Eigene Ehre ist wichtiger als das Leben anderer.
Aber auch der Staat trat schon früh als Rächer auf. Der Tod als Strafe reichte jedoch oftmals nicht, die Menschen mussten zuvor noch teilweise in unermesslichem Maße zusätzlich gequält werden. Verbrecher sollten vor ihrem Tod noch leiden, und die Zuschauer genossen das Schauspiel.Jesus wurde vor seinem Tod zunächst gequält, seiner Würde beraubt und dann ans Kreuz genagelt, damit der Tod nur nicht zu schnell eintreten konnte. Bis ins Mittelalter wurden Todesstrafen oft durch Verbrennen oder Vierteilen, also auf besonders grausame Art, vollstreckt, so wie das auch heute noch bei der Todesstrafe durch Steinigung geschieht. Manche Verurteilten werden vorher noch ausgepeitscht. Das Volk beteiligt sich und johlt. Da war Hammurapi schon weiter.
Ansonsten hat sich in vielen Ländern der Erde die Todesstrafe ohne vorheriges physisches Quälen als legales Mittel der Rache erhalten, sogar in einem Land wie den USA, das sich selbst so gerne als Vorreiter für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit sieht. Das Bedürfnis nach Rache kan leicht Menschen entmenschlichen.
Auch unser Strafrechtssystem, das ohne Todesstrafe auskommt, ist im Prinzip ein System der monopolisierten Vergeltung. Der Einzelne darf sich in einem Rechtsstaat nicht mehr nach Gutdünken rächen, sondern der Staat tritt für den Geschädigten ein und nimmt für ihn Rache. Wenn jemand eine bestimmte mit Strafe belegte Handlung an Leib, Leben oder Eigentum eines anderen begeht, wird er daher mit einer ganz bestimmten Strafe als ausgleichende Rache für seinen Verstoß gegen die Regeln der Gemeinschaft bestraft.
Nur unterhalb dieser staatlich gesetzten Grenze kann in unserem Land ein Mensch seinen Rachegelüsten zum Ausgleich eines von anderen zugefügten Bedürfnisdefizits folgen. Und auch da kann das Bedürfnis nach Rache sehr heftig sein. Es wird umso heftiger sein, je mehr das eigene Selbstwertgefühl negativ berührt ist und je deutlicher dem anderen böswillige Absichten unterstellt werden können. Das einem selbst zugefügte Leid in Form von Missachtung, Respektlosigkeit oder effektivem Schaden schreit nach Tilgung.
Wenn wir sogar direkt physisch oder psychisch angegriffen werden, sind stärkste Strebungen nach offener oder heimlicher Rache geradezu unausweichlich.
Sind einzelne Menschen nicht als Quelle eines Bedürfnisdefizits auszumachen, gleicht oft sinnloser Vandalismus das eingetretene Bedürfnisdefizit aus.
Auch Dinge, die nicht so funktionieren, wie wir das wollen, können Bedürfnisdefizite auslösen. Haben Sie nicht auch schon einmal einen abstürzenden Computer verflucht, einen Geschäftspartner, den Sie am Telefon nicht erreichen konnten, weil auch beim zehnten Wahlversuch sein Telefon noch besetzt war, oder Ampeln verwünscht, die partout immer gerade dann auf "Rot" schalten, wenn Sie angefahren kommen? Dann wissen Sie, wovon die Rede ist!
Beispielhafte Faktoren der Bedürfnisbefriedigung:
- Wenn man sich stark genug fühlt, wird auf Angriffe sofort (über-)reagiert. Das kann psychisch durch Schmähungen oder verbale Bedrohungen erfolgen bis hin zu physischen Übergriffen. Aber auch Mobbing, Liebesentzug, Entzug von Unterstützung sind Möglichkeiten der Rache.
- Vorgesetzte schreien Mitarbeiter bei Fehlern an, lassen Strafarbeiten machen, verweigern Beförderungen und Höherstufungen im Gehalt.
Als ich noch zur Schule ging waren Schläge noch normale Reaktionen der Lehrer bei unangemessenen Leistungen oder respektlosem Verhalten. - Wenn man sich schwächer fühlt, erfolgen auch oft hinter dem Rücken des anderen Racheaktionen durch Mobbing oder glatt erdichtete Verleumdungen.